Anfangs Dezember fanden in der Bibliothek Oechslin in Einsiedeln zum 10. Mal
die Architekturgespräche statt.
Organsiert und moderiert wurde der Anlass von Laurent Stalder, Professor für Architekturtheorie an der ETH,
zusammen mit Mario Rinke, Dozent am Lehrstuhl für Tragwerksentwurf ebenfalls an der ETH. Zur Debatte stand
die Frage "Welche Konstruktion?". Die Bühne gehörte je zur Hälfte den Architekten und den Ingenieuren.
Unglücklicherweise war nur eine Frau als Gesprächsteilnehmerin eingeladen, die krankheitshalber absagen
musste. Auch im Publikum bildeten die Zuhörerinnen eine krasse Minderheit, welche sich allerdings aktiver
an den Diskussionen beteiligte als die schweigende Mehrheit.
In gewohnt charmanter Weise brachte der Gastgeber Werner Oechslin das Problem gleich
zu Beginn auf den Punkt: um gute Architektur zu machen, brauche es die Imagination von Architekten
ebenso wie das Kalkül von Ingenieuren. Dies vermochten die fünf darauffolgenden Präsentationen auf
eindrückliche Weise zu beweisen. In keinem Fall entsprach die Zusammenarbeit zwischen Architekt
und Ingenieur dem, was man gemeinhin unter 'Spezialisierung' versteht.
Imagination und Kalkül sind keine kategorischen Imperative für Ingenieure oder Architekten.
Vielmehr besteht jedes Projekt aus einem ganzen Bündel von Notwendigkeiten, die beiden zusammen
auswählen, neu zusammenstellen und schnüren müssen. Letztlich ist Notwendigkeit etwas zu Erfindendes
und nicht etwas a priori Gegebenes. Der Ideenaustausch zwischen Architekt und Ingenieur
lässt sich so besser als Phasenraum mit sich wiederholenden Durchgängen darstellen statt
als Diagramm eines linearen Prozesses.
Beim LEE-Gebäude der ETH in Zürich fügte sich ein sehr erfahrener
Ingenieur (Carlo Galmarini) dem rigorosen Formwillen eines viel jüngeren Architekten
Fawad Kazi) bezüglich der äusseren Erscheinung des Gebäudes und erhielt dafür die
Kontrolle über die inneren Kraft- und Energieflüsse.
Im Fall des Hilti Innovationszentrums in Schaan (Ing.: Joseph Schwartz, Arch.:
Giuliani/Hönger) haben die Architekten das Tragwerk in räumlicher Hinsicht ausdifferenziert,
welches an sich selbst auch schon eine eminent räumliche Differenzierung aufweist.
Der Mensaneubau für die Kantonsschule Neuenhof (Ing.: Daniel Meyer, Arch.:
Beat Waeber) ist sowohl eine Brückenkonstruktion wie auch ein Futteral, wobei die Konstruktion
durchaus auch die weichen Züge eines Futterals annehmen kann wie das Futteral zum Teil mit den
harten konstruktiven Fakten verschmilzt.
Beim Bundesstrafgericht in Bellinzona, genauer bei der Planung der Deckenkonstruktion
der öffentlichen Gerichtssäle gründeten der Ingenieur Patrick Gartmann und die Architekten Bearth &
Deplazes ihre Zusammenarbeit auf einem gemeinsamen Glauben an die 'Wahrheit' der Konstruktion,
wonach die tonnenschweren, nach innen geneigten Akustikplatten aus Beton ehrlicherweise
nicht an einem filigranen Metallgerüst aufgehängt werden sollte - wohl wissend, dass eine
solche Unterkonstruktion durchaus den statischen Anforderungen genügt hätte und sowieso
unsichtbar hinter der den Betonplatten verborgen sein würde.
Die Architekten Christ und Gantenbein opferten die physische Realität des Birskopfstegs,
der Basel-Stadt mit Basel-Land verbindet, der Eleganz einer fast immateriellen Linie, während der
Ingenieur Nico Ros die "solidité réele" gegen alle Augenscheinlichkeit mit verdeckten Mitteln
zu sichern hatte.
Doch in die Präsentationen der vielfältigen kreativen Zusammenarbeit zwischen
Architekten und Ingenieure schlichen sich auch Zweifel ein. Dies war etwa der Fall, als Andrea
Deplazes auf die Gestaltung der Oberfläche der Pyramidendecken zu sprechen kam.
Akustische Gesetze verlangten eine unebene und poröse Gestaltung der Oberfläche, die von
einem Computerprogramm berechnet, dann von Gramzio & Kohler in ein Computer-generiertes
dreidimensionales Relief verwandelt und schliesslich von Computer-gesteuerten Maschinen gedruckt
wurde. Deplazes betonte dabei ausdrücklich, dass dieser Schritt von den Gesetzen der Akustik zur
Geometrie der Oberfläche nur mit Hilfe eines Computerprogramms hatte vollzogen werden können.
Diese Argumentationsweise steht aber in eklatantem Gegensatz zum Glauben an die 'Wahrheit' der
Konstruktion, welche die Architekten bei ihrer Zusammenarbeit mit dem Tragwerkentwerfer leitete.
In diesem Punkt hat der Glaube an die faktenbasierten Kalkulationen von Maschinen den metaphysischen
Glauben an eine 'Wahrheit' der Konstruktion bereits geschlagen.
Leicht vorstellbar, dass sich in naher Zukunft auch weitere Aspekte des Bauens als ebenso
komplex erweisen werden und die man deshalb auch am elegantesten einem Computerprogramm zur
Bearbeitung überlässt. Mit der stetig wachsenden Datenmenge - etwa BIM - wird architektonische
Problemlösung immer mehr zur einer Angelegenheit von Data-Mining. Die Verschiebung der Kompetenzen
weg von den Ingenieuren und Architekten, hin zur Kompetenz der Algorithmen ist längst im Gang.
Zu befürchten ist, dass die gute alte kreative Zusammenarbeit zwischen Architekten und Ingenieuren
dem Ansturm digitaler Technologien nicht standhalten wird.
Andere Zweifel an der bisherigen Form von Zusammenarbeit zwischen Ingenieur
und Architekt stiegen auf, wenn man den Ausführungen von Joseph Schwartz und den Architekten
Giuliani / Hönger über das Hilti Innovationszentrums folgte. Hier ist die jahrhundertealte
Unterscheidung von Struktur und Raum hinfällig geworden, da das Tragwerk gerade kein
standardisiertes, regelmässiges Gerüst mehr ist, welches von Architekten in räumlicher und
funktionaler Hinsicht zusätzlich ausdifferenziert werden muss. Mit Software und
Computer-unterstützten Herstellungsverfahren (CAM) lassen sich Tragwerke sehr präzise auf die
Erfordernisse einzelner Teile zushneiden. Vielleicht das Tragwerk solchermassen die besseren
Möglichkeiten für räumliche Gestaltung, vielleicht meint Raumgestaltung im digitalen Zeitalter
in erster Linie Tragwerkgestaltung und nicht mehr Körper- oder Atmosphärengestaltung.
Statt auf die Gestaltung von Baumgrenzen käme es dann wohl mehr auf die Korrelationen zwischen
Räumen an. Jedenfalls müssen die ursprünglichen Kompetenzen von Ingenieur und Architekt in diesem
Sinne neu verhandelt werden. Imagination und Kalkulation sind nicht zwei Paar Schuhe, vielmehr
integrale Bestandteile eines neuen räumlichen Denkens.
Warum in einer Veranstaltung, in welcher die Frage "Welche Konstruktion?" im Zentrum
stand, wenig über digitale Technologien gesprochen wurde, hängt wohl nicht nur mit deren Neuheit
zusammen. Wir sind einfach zu sehr gewohnt, uns immer nach rückwärts zu orientieren, dem Sturm
entgegengewandt, welcher uns aus der Vergangenheit unaufhörlich nach vorne treibt, statt dass
wir nach vorn blicken und auf das achten, was an Neuheiten auf uns einstürmt. Welchen Sinn jedoch
macht Geschichte im Leben, wenn nicht den, uns auf die Neuheiten besser einzustellen, in welche
uns die Gegenwart konfrontiert, statt sie zu verdammen.
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